Eingewöhnung unter Corona-Bedingungen neu denken

Während des eingeschränkten Regelbetriebes im Zuge der Covid 19 Pandemie standen wir in diesem Kindergartenjahr vor der Aufgabe ein U-3 Kind sowie zwei Ü-3 Kinder unterjährig in unsere Gruppe aufzunehmen. In der Raupengruppe betreuen wir insgesamt sechs U-3 Kinder und zwölf Kinder im Alter von drei bis vier Jahren, davon ein I-Kind. In unserem Kleinteam arbeiten in der Regel drei pädagogische Fachkräften, eine PIA-Studierenden sowie eine Inklusionsassistentin; in Regelzeiten ist damit eine hohe Personalkonstanz gesichert, die für eine gelingende Eingewöhnung unabdingbar ist. Konzeptionell orientieren wir in der Eingewöhnung am Berliner Eingewöhnungsmodell. So handhaben wir es in Regelzeiten – doch wie da diese Eingewöhnungen unter den Pandemie –Bedingungen stattfanden bedeutete dies auch, dass sich unsere Rahmenbedingungen ändern.

In Zeiten des Pandemiebetriebes arbeiten wir überwiegend in der Mindestbesetzung und in festen Gruppen. Dies bedeutet für die Eingewöhnung, dass zeitliche und personale Ressourcen nur eingeschränkt vorhanden sind und somit eine o.g. hohe Personalkonstanz in der Gruppe nicht zu jeder Zeit gewährleistet werden kann. Mit der Umsetzung von veränderten Hygienerichtlinien und Schutzverordnungen veränderten sich weitere Rahmenbedingungen unserer Arbeit. Relativ schnell wurde uns klar, dass wir unsere Eingewöhnung nicht wie gewohnt umsetzen können. Wir mussten unsere Arbeit den neuen Bedingungen anpassen und „Eingewöhnung neu denken“.

Hygienerichtlinie und pädagogische Qualitätsstandards: Ein unauflösbares Dilemma?!

Die „Corona- Eingewöhnungen“, wie wir diese intern bezeichnen, stellen uns vor ein Dilemma: Auf der einen Seite ist der allgemeine Schutzgedanke aller Beteiligten vor dem Corona Virus. Dieser konkretisiert sich in verpflichtend umzusetzenden Hygienerichtlinien bzw. den einzuhaltenden Schutzbestimmungen. Auf der anderen Seite ist der professionelle Grundsatz, pädagogische Qualitätsstandards der Eingewöhnung nicht aufzuweichen. Hierzu ein konkretes Beispiel aus der Praxis:

Eine gute pädagogische Eingewöhnung kann nur erfolgen, wenn die „neuen Kinder“ durch ihre Eltern in den ersten Kindergartentagen begleitet werden. Kinder entwickeln ein Vertrauen in ihre neue Umgebung und in die pädagogischen Fachkräfte nur, wenn sie ihre eingewöhnende Bezugsperson als sicheren Hafen zur Verfügung haben. In der Regel ist dies ein Elternteil. Ohne Eltern in der Eingewöhnung geht es also nicht. Dementsprechend bekommen die „neuen Eltern“ selbstverständlich das Recht eingeräumt, unter Einhaltung der Corona- Schutzbestimmungen, ihre Kinder in den ersten Tagen der Eingewöhnung zu begleiten. Die verpflichtenden Schutzbestimmungen sehen dabei vor, dass die anwesenden erwachsenen Personen im Raum den Mindestabstand von 1,5 m einhalten; sollte dieser unterschritten werden ist das Tragen einer Maske verpflichtend. In der Berufspraxis hat die Corona- Verordnung Auswirkungen auf die direkte Interaktion mit den Eltern und auf die Interaktion mit dem Kind. Das Tragen der Maske im direkten Elternkontakt wurde in der Praxis als gut umsetzbar erlebt und konnte leicht umgesetzt werden. Als problematisch erweisen sich hingegen die Auswirkungen bei der Interaktion mit dem Kind. Die ersten Tage der Eingewöhnung sind entscheidend, um einen vertrauensvollen pädagogischen Bezug zum Kind aufzubauen. Einen besonderen Schwerpunkt legen wir dabei auf unser Interaktionsverhalten, indem wir Blickkontakt aufbauen und die mimischen Äußerungen des Kindes bewusst spiegeln. Durch dieses Spiegeln signalisieren wir dem Kind, dass wir seine Äußerung und die darin enthaltende emotionale Färbung wahrgenommen haben. Gleichzeitig ermöglichen wir dem Kind so einen eigenen Zugang zu seinen Emotionen. Dies geschieht, indem das Kind unsere Mimik als Spiegel benutzt und dadurch erkennt, dass es sich um seine Gefühle und Emotionen handelt. Erst dann stimmen wir unser sprachliches Antwortverhalten auf die Äußerung des Kindes ab. Dieses abgestimmte Antwortverhalten oder auch „responsives“ Interaktionsverhalten gilt als Qualitätskriterium gelingender Erzieher-Kind-Interaktion. Daher ist das Tragen in einer Maske in der Erzieher-Kind Interaktion aus fachlicher Sicht als kritisch zu bewerten.

Eine Eingewöhnung unter der Voraussetzung „mit Maske und auf Abstand “ war somit für uns eine schwierige Option, um gegenseitiges Kennenlernen und den Vertrauensaufbau zu fördern. So entschieden wir uns, diese Regel zu dehnen: In der direkten Interaktion mit den Eltern tragen wir eine Maske. Im direkten Kontakt mit dem Kind verzichteten wir auf die Maske– auch wenn sich diese Kontaktgestaltung insb. in den ersten Tagen der Eingewöhnung in unmittelbarer Nähe zu der eingewöhnenden Bezugsperson abspielte. Selbstverständlich haben wir dieses Vorgehen mit den eingewöhnenden Bezugspersonen abgestimmt. Eine Mutter eines U3 Kindes begrüßte diesen Verzicht auf die Maske explizit, die anderen Eltern konnten- trotz des Ansteckungsrisikos- diese Entscheidung mittragen.

Eingewöhnung neu denken

Das Beispiel verdeutlicht, dass allgemeine Richtlinien und Schutzbestimmungen in der Berufspraxis zu Konflikten und Widersprüchen führen können. Die Entscheidung, eine Sicherheitsregel zugunsten der Einhaltung von pädagogischen Standards auszudehnen, haben wir uns nicht leicht gemacht. Es führte zu einem generellen Umdenken des bestehenden Eingewöhnungsprozesses. In Anlehnung an das Berliner Eingewöhnungsmodell orientieren wir uns in der Eingewöhnung in erster Linie an zeitlichen Richtwerten. So findet eine erste Trennung von den Eltern frühestens ab dem vierten Tag, in der Regel aber erst ab der zweiten Woche statt. Das Aushalten der o.g. Konflikte und Widersprüchen führte uns zu der Frage, ob unser bestehender Eingewöhnungsprozesses in der Corona-Pandemie überhaupt noch sinnvoll funktionierte. In uns reifte der Wunsch, den Eingewöhnungsprozess „so lange wie für das Kind (und seine Eltern) nötig “ und im Hinblick auf den Gesundheitsschutz und die eingeschränkten personellen und zeitlichen Ressourcen „so schnell wie möglich“ zu gestalten. Jedoch steht das Vorhaben „Eltern so schnell wie möglich aus dem Haus haben zu wollen“ im Widerspruch zu unserer professionellen Grundhaltung, dem Kind seine eigene Zeit zu geben, bis es Vertrauen in seine neue Umgebung und die pädagogischen Fachkräfte aufgebaut hat. Unserer Erfahrung nach benötigen ferner auch die Eltern Zeit, um Vertrauen in uns aufzubauen. Durch ihre Anwesenheitszeit in der ersten Wochen haben sie ausreichend Gelegenheit uns und unsere Arbeitsweise zu beobachten, um sich ihr eigenes Bild über uns zu machen. Vielen Eltern hilft dies bei der ersten Trennung von ihrem Kind, weil sie selbst das Gefühl haben, ihr Kind in guten Händen zu wissen.

Unser Vorhaben unsere Eingewöhnung „neu zu denken“, führte uns also zu der Frage: „Wie lässt sich Vertrauen in kürzester Zeit aufbauen – ohne alle in der Eingewöhnung Beteiligten in Stress zu versetzen?“ Besser noch: „Wie gestalten wir die Eingewöhnung so, dass alle Beteiligten das Gefühl haben, diese große Herausforderung aktiv und stressfrei bewältigen zu können?“

KInder STRessfrei EIngewöhnen

Aus dieser Motivation heraus haben wir die Methode „Kinder stressfrei eingewöhnen“ (KISTREI) entwickelt. KISTREI arbeitet mit einem veränderten Bild der Eingewöhnung; dieses wird im Folgenden beschrieben. Dazu werfen wir zunächst jedoch den Blick kurz auf das bestehende Eingewöhnungskonzept. Das Berliner Eingewöhnungsmodell unterteilt den Prozess der Eingewöhnung in insgesamt vier zeitlich abgegrenzten Phasen:

  • Schnupperphase: umfasst das Aufnahmegespräch mit den Eltern sowie insgesamt bis zu zwei Besuchsnachmittage, an dem die neuen Kinder die Möglichkeit haben den Kindergarten mit ihren Eltern zu besuchen.
  • Grund-/ Kontaktphase: umfasst die ersten zwei bis drei Tage; bei jüngeren Kindern kann dies auch bis zu fünf Tage dauern. Die neuen Kinder und der eingewöhnende Elternteil bleiben ca. 2-3 h in der Einrichtung. Frühestens am vierten Tag der Eingewöhnung, häufig jedoch erst am sechsten Tag findet die erste Trennung von der eingewöhnenden Bezugsperson statt; diese verbleibt dann außer Sichtweite des Kindes (meist im Elterncafe) in der Einrichtung. Ist dieser Trennungsversuch (ca. 30 min) erfolgreich verlaufen, geht die Eingewöhnung unmittelbar in die nächste Phase über; war der Trennungsversuch nicht erfolgreich, verlängert sich die Grund-/ Kontaktphase um weitere drei Tage.
  • Stabilisierungsphase: umfasst insgesamt noch einmal zwei bis drei Tage, in denen die Eltern noch in der Einrichtung verbleiben. Die Trennung von den Eltern wird wiederholt bzw. bis zu 1,5 h ausgeweitet. Im weiteren Verlauf der Eingewöhnung können die Eltern die Einrichtung unter der Voraussetzung der ständigen Erreichbarkeit verlassen.

Durch diese zeitliche Strukturierung der Eingewöhnung lässt sich dieser Prozess als „langer Weg“ beschreiben, der die erfolgreiche Eingewöhnung als Endpunkt markiert. Auf diesem Weg ist die Trennung von den Eltern als „großer Meilenstein“ eingezeichnet, um den sich die daran anschließende Ausweitung der Betreuungszeit orientiert. Die Frage nach der „Trennung“ bzw. der „Ausweitung von Betreuungszeit“ dominierte dabei die Inhalte der Kommunikation aller an der Eingewöhnung beteiligten, obwohl wir im Aufnahmegespräch sehr ausführlich über den zeitlichen Ablauf unserer Eingewöhnung informieren. Nichtsdestotrotz äußern eingewöhnende Eltern häufig die Sorge „Was ist, wenn sich mein Kind an meine Anwesenheit gewöhnt?“ oder „Wann kann mein Kind denn ohne mich in der Einrichtung bleiben?“ – und gerade durch die Corona Pandemie und die damit verbundenen Schutzmaßnahmen kam die die Frage nach einem günstigen frühestmöglichen Zeitpunkt für eine Trennung vermehrt auch in uns selbst auf. Schließlich lag es auch in unserer Verantwortung die o.g. Grund-/ Kontaktphase nicht unnötig weit auszudehnen, um das mögliche Infektionsrisiko so gering als möglich zu halten.

Doch wie lässt sich ein günstiger Zeitpunkt für den ersten Trennungsversuch festlegen? Woran lässt sich festmachen, ob ein Kind, die eingewöhnende Bezugsperson und auch die eingewöhnende Bezugserzieherin „bereit“ sind für die erste Trennung oder die Ausweitung von Betreuungszeit? Welche Kompetenzen und Ressourcen sind hierfür bei den jeweiligen Beteiligten erforderlich?

Durch das Berliner Eingewöhnungsmodell waren wir gewohnt in zeitlichen Strukturen zu denken. Wir stellten jedoch für uns fest, dass ein solcher „Fahrplan“ nur als allgemeine Orientierungshilfe dienen konnte und wir stattdessen den Blick auf die Ressourcen derjenigen richten wollten, die an der Eingewöhnung beteiligt sind. Mit unserer Methode KISTREI zeichnen wir ein neues Bild der Eingewöhnung. Der „lange Weg“ mit dem großen Endziel der erfolgreich abgeschlossenen Eingewöhnung ist zwar geblieben. Doch auf dem Weg befinden sich nun Zwischenetappen, sogenannte Teilziele. Die Teilziele strukturieren den Prozess der Eingewöhnung inhaltlich, d.h. sie beschreiben kleinschrittig zahlreiche Teilleistungen und Kompetenzen des Kindes, der Eltern und der Bezugserzieherin, die es innerhalb des Eingewöhnungsprozesses erfolgreich ausgebildet werden. Neben den Teilzielen befinden sich auf dem Weg „Bänke“, die zum verweilen, ausruhen und „auftanken“ einladen. Diese Bänke stehen für die Wochentage Montag und Freitag; an diesen beiden „Ausruhtagen“ nehmen wir keine Veränderungen im Eingewöhnungsprozess vor, d.h. an diesen Tagen erweitern wir beispielsweise nicht die Betreuungszeit.

In unserer Eingewöhnungspraxis haben wir die Erfahrung gesammelt, dass Kinde, Eltern und Bezugserzieher bereits ab dem ersten Tag ein oder auch mehrere dieser Teilziele erreichen. Hier eine exemplarische Übersicht über die Teilziele von KISTREI:

  • Kinder nehmen interessiert die neue Umgebung wahr
  • Kinder lösen sich von ihren Eltern
  • Kinder bewegen sich frei im Raum / erkunden den Raum
  • Eltern können ihrem Kind Raum geben / sich zurücknehmen
  • Kinder, Eltern und Bezugserzieher kommen miteinander in Kontakt
  • Kinder erkunden angebotenes Material / wählen eine Aktivität
  • Bezugserzieherin nimmt Stressreaktion des Kindes / Antwortverhalten der Eltern bewusst wahr
  • Kinder lassen sich von den Erziehern trösten und wickeln
  • Kinder können zunehmend stressfrei spielen
  • Kinder wählen bewusst Spielpartner
  • Kinder nehmen stressfrei an Gruppenaktivitäten teil (z.B. Mittagessen)
  • Kinder schlafen in der Kita
  • Kinder kennen Regeln und Abläufe
  • Kinder haben erste Konflikte

Diese Liste lässt sich noch weiter ergänzen; wichtig ist uns bei unserer Methode KISTREI vielmehr, einen achtsamen Blick darauf zu werfen, was alle Beteiligten im komplexen Eingewöhnungsprozess leisten. Diese ressourcenorientierte Haltung bildet die Ausgangsbasis für die Kommunikation mit den Eltern. Im täglichen Austausch können wir so konkret benennen, was Eltern und Kind am heutigen Tag „geschafft“ haben und diese Leistung entsprechend würdigen. Gemeinsam lässt sich darauf aufbauend der „nächste Schritt“ formulieren. Durch dieses kleinschrittige Vorgehen werden den Eltern bereits frühzeitig die ersten Erfolge im Eingewöhnungsprozess bewusst. So hatten die Eltern bereits von Beginn an das Gefühl „es geht voran“ und freuten sich über ihre Fortschritte bzw. die Fortschritte Ihres Kindes. Vielfach haben wir die Beobachtung gemacht, dass Eltern sich insgesamt aktiver in den Eingewöhnungsprozess einbrachten – aber auch sehr einfühlsam mitgehen konnten, wenn ihr Kind Anzeichen von Müdigkeit und Stress zeigte.

Die Formulierung der einzelnen Teilziele ermöglicht der Bezugserzieherin einen guten Überblick über den komplexen Eingewöhnungsprozess und den ungefähren Stand der Eingewöhnung. Dies erleichtert es, eine fachlich begründete Entscheidung darüber zu treffen, wann ein guter Zeitpunkt für eine erste Trennung gekommen ist bzw. inwieweit die Betreuungszeit angehoben werden kann. Darüber hinaus wird auch die Kommunikation mit den Eltern erleichtert. Dies fördert gegenseitiges Vertrauen, da die Eltern den Eindruck gewinnen: „hier weiß jemand ganz genau, was er tut.“

Fazit: Die Corona-Pandemie stellt uns alle vor die große Herausforderung flexibel auf neue Bedingungen und Herausforderungen zu reagieren. Das ermöglichte uns aber auch, bestehende Strukturen noch einmal kritisch zu reflektieren und unsere professionelle Haltung weiter zu entwickeln.